9 Mär
Erfahrungsbericht von Ulrike S.

Griffith College Dublin

Stadt: Dublin
Land: Irland
Kontinent: Europa
Studienrichtung: Medien, Journalismus
Studientyp: Auslandssemester
Zeitraum: 09/2011 bis 05/2012

Hochschule:
Studieninhalte:
Studienbedingungen:
Freizeit:
Spaß:
Kosten:
Gesamtbewertung:

Standort Dublin – Gute Zeiten, Schlechte Zeiten

Alles was ich über die katholische „Insel der Heiligen“ vor meinem Abflug wusste, habe ich in einem kleinen Büchlein gefunden. Es erzählt von der „überwältigenden Frömmigkeit“, von den Iren als „einzigem Volk, das nie Eroberungszüge unternahm“, von einem Land, wo Armut „nicht nur keine Schande mehr, sondern weder Ehre noch Schande“ ist, wo sie „als Moment gesellschaftlichen Selbstbewusstseins so belanglos wie Reichtum“ wird. Es schildert Rekorde im Whiskysaufen und Zigarettenrauchen, im Priesternachwuchs und Kinobesuch.
Dazu verspricht der Verfasser: „Es gibt dieses Irland: wer aber hinfährt und es nicht findet hat keine Ersatzansprüche an den Autor.“
Ja, ich würde Ersatzansprüche stellen. Blöd nur, dass der fabelhafte Heinrich Böll nicht mehr unter uns ist, das Angebot gar nicht erst stellt und etwaige Ansprüche mittlerweile verjährt wären. Böll zeichnet ein Irland-Bild voll Melancholie, Romantik und Freigeistigkeit. Ich würde heute ein anderes Porträt pinseln. Es ist aber auch viel Zeit ins Land gezogen: Über 60 Jahre sind seine Zeilen alt.

Die gepriesene Frömmigkeit kann ich nur auf dem Papier erkennen – gegossen in scheinheilige Gesetze, die Abtreibung verbieten und Prostitution als illegal erklären - und in den blanken Mitgliederzahlen der katholischen Kirche. Ob sich die überwältigenden 87% auch in gelebter Nächstenliebe niederschlagen, habe ich noch nicht erforscht, könnte aber zum Projekt nach meinem Studium werden. Armut und Reichtum werden heute mitnichten als belanglos empfunden. Ich bin bislang keinem Freak begegnet, der mit seiner Armut selbstbewusst und würdevoll auf der Straße nach „Change“ gebettelt hätte (statistisch gesehen, wäre dieser Fall unter den gegebenen Umständen gar nicht so unwahrscheinlich gewesen: die irische Obdachlosenquote liegt seit Beginn der Wirtschaftskrise um das fünffache über dem EU-Durchschnitt).
Ähnlich augenfällig ist der Reichtum der wohl situierten Oberschicht, die mit Designertäschchen von „Brown Thomas“ in „Louboutins“ durch „Grafton Street“ flaniert und deren weiblicher Teil in vermeintlich graziler Manier die Pfennigabsätze aus dem Kopfsteinpflaster zu lösen versucht. Der Whiskey wurde durch Exportbier und piefige Shots ersetzt und das gesellige Schmöken ist seit langem Geschichte. Gequalmt wird nur noch vor der Tür. Der Kopf im Pub bleibt frei.

Was also ist passiert?
Ich versuche es mit einer gewagten Absolut-Aussage ohne eine fundierte politische Analyse betrieben zu haben: Die Iren sind der EU beigetreten. Bis dahin das Armenhaus Westeuropas, profitierte das Land vom Zusammenwachsen Europas und vom Dienstleistungs- und Finanzboom. Der Kapitalismus hielt, was er verspricht: Erst kam das große Wachstum, jeder freute sich, kaufte, investierte, schnitt sein Stück vom Kuchen ab (dem armen Land wurde konsequent der beknackte Spitzname „Keltischer Tiger“ angetan) und dann kam das große Frühlingserwachen (zumindest war der „Keltische Tiger“ damit tot; ob es wohl zum Unwort des Jahres gewählt worden ist? Gibt es das hier?).

Auf einmal war nichts mehr sicher - außer das Wetter; will heißen: der Regen. In Verbindung mit orkanartigen Winden überlässt er die Vorhersage des Weltuntergangs nicht nur den Majas. In diesem Fall sind Regenschirme nicht zu empfehlen. Der Tod käme nicht langsam. Draußen sind Gewitter ja ohnehin ungut; die positive Ungemütlichkeit entfaltet sich nur drinnen. Also: sitzenbleiben. Wer die Jahreszeiten liebt und kein ganzes Jahr warten will, sei herzlich willkommen: Irland hat Frühling, Sommer, Herbst und Winter an einem einzigen Tag zu bieten. Heißer Styling-Tipp für diesen Anlass: der Zwiebel-Look. Praktisch gut und modisch experimentell.

Wem der Zwiebel-Look nicht en vogue erscheint, seiner Figur unzuträglich oder einfach keine XL-Jacke zum Verpacken der Schichten besitzt, möge einen Pub aufsuchen. Kurzer Fußmarsch garantiert. Wer hierbei wählerisch ist, stresst sich selbst ohne Not: Jeder Pub hat zwar seinen eigenen Charme, aber in jedem bekommt man auch gleichzeitig das, was in den Reiseführern als „Mittelpunkt des kulturellen Lebens“ gefeiert wird: Philosophierunden über den Sinn des Lebens, die Diskussion über die aktuelle Weltpolitik, die Lyrik-Lesung oder den Schenkelklopfer während der Comedyshow (Witze zu produzieren, scheint angesichts der Zahl an professionellen Humorschaffenden eine Art Volkssport zu sein).
DJ’s hingegen fristen hier ein Randdasein. Viel populärer sind die Künstler der alten Schule: Musiker mit echten Instrumenten – ganz volksnah zum Anfassen: gespielt wird Jazz, Indiepop, Rockabilly oder traditionelle irische Folklore. Abrunden kann so viel Programm nur noch ein frisch und korrekt gezapftes Guinness. 123 Sekunden muss dieser Vorgang nach irischem Reinheitsgebot dauern (diesen Begriff habe ich zugegeben gerade frei erfunden, aber warum sollten die Iren kein den Bayern ähnliches Guinnessgesetz haben?). Falls die 123 Sekunden unterschritten werden, bitte reklamieren.
Wer einsam, neugierig oder schlicht weltoffen ist und auf einen Plausch setzt, platziert sich am besten direkt an die Bar. Der Kellner erklärt gerne die Welt (andere Berufsgruppe dieser Art: Taxifahrer. Wer eine geruhsame Fahrt wünscht, nehme tunlichst hinten Platz). Im Grunde ist es aber völlig gleich, auf welchem Stuhl man im Pub landet: um ein Palaver mit Fremden kommt man schwerlich umhin: Die Iren lieben das sich mitteilen, das „Über die da Oben schimpfen“, das Lamentieren über das gruselige Wetter und den zermürbenden Job. Erzählt wird mit einem ausgeprägten Hang zum Tragischen. Die unter Umständen gute Nachricht: egal wie viel Herzblut in einer Geschichte steckt, eine fröhliche Pointe bekommt man immer verabreicht. Jeder weiß: „Die Dinge könnten schlimmer stehen und irgendwie ging es immer weiter (eine alte irische Weisheit habe ich mir sagen lassen).“
Spätestens um 00:30 Uhr muss man sich verabschieden. Ab dann wird man freundlich zur Tür verwiesen. Die Sperrstunde beginnt. Es gilt also: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Man kehrt nach Feierabend ein und verlässt den Pub zu christlicher Stunde (das könnte noch in die Kategorie „Frömmigkeit“ fallen; bedenke ich allerdings den Zustand der meisten „Goodbye-Sagenden“, wird es schon kniffliger).

Für den, der noch sicher steht, stellt sich also die Frage: Wo geht es weiter? Richtig: in einem der vielen Nachtclubs. Die Dichte in Dublin ist nicht ungut, weniger gut ist die Zeitspanne für das Vergnügen: die Tore werden um 2:30 Uhr geschlossen. Was auffällt: House-, Hip Hop- und Techno-Tempel sind im Gegensatz zu deutschem Großstadt-Standard selten zu finden. Dafür gibt es umso mehr Pop, Indie Rock, Metall Clubs und Bars. Bands, die sich standhaft weigern, sich bei Castingsshows wie X-Factor zu bewerben, aber trotzdem die muffige Garage oder den ranzigen Probenkeller verlassen möchten, werden hier überall auf die Bühne gelassen. In den größeren Bars findet man auf jedem Stockwerk eine andere Funky-Punkyband, die ihre selbstgeschriebenen Songs zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren. Das Leckerli für den Besucher: nur selten muss man Eintritt löhnen. Der Wermutstropfen: Die Getränkepreise holen diese Ersparnis nicht erst am Ende der Nacht wieder rein. Zu beobachten ist deshalb oft, wie jemand in einem vermeintlich unbeobachteten Moment das „Bulmers“ (irischer Cider) oder „Budweiser“ (amerikanisches Exportbier) aus der Tasche zieht und flink das Glas nachfüllt. Wer dieses Tun als nachahmenswert betrachtet, sollte folgendes beachten: Der geheime Vorrat ist bis spätestens 22 Uhr für den selbigen Abend zu beschaffen. Danach ist der Kauf von Alkohol in Supermärkten, Tankstellen, Non-Licence Shops schlicht Geschichte für den Tag – zu Gunsten der heimischen Gastronomie.

Ob mit oder ohne Alkohol, an einem Phänomen kommt niemand ohne an Hornhautgeschwür zu leiden, vorbei: die „Freikörperkultur“ und die „halsbrecherische Kühnheit“ der großen weiblichen Mehrheit; vom zarten bis ins fortgeschrittene Alter durchgängig zu diagnostizieren. Ohne Rücksicht auf Wind, Wetter und Jahreszeit. Ohne Rücksicht auf objektiv ästhetisches Empfinden. Vielleicht sollte ich mich mit einer Aufklärungskampagne sozial engagieren, verkündend, „lässig-Frieren-wollen“ geht nicht und sieht also nicht lässig aus; in meterhohen Schuhen nicht laufen können, mag zwar sexy gemeint sein, ist tatsächlich aber unsexy. In Bildern gesprochen: High Heels gelten erst ab einem 14 cm Absatz als solche, Strumpfhosen und Leggins sind grundsätzlich überflüssige Accessoires und der Minirock ist buchstäblich „mini“, im Sinne von minimaler Pobackenverkleidung oder maximalem „Nichts“. Was bleibt also übrig? Eine gänsige Haut, eine Make-Up-Lage, an deren Pudergehalt man sich nasal bis ins übernächste Jahrtausend berauschen könnte und ein trauriger Stoff aus Omas Restekiste, der auch keinen durchgeknallten Hipster als Vintage Rarität überzeugen könnte. Mit „weniger sei mehr“ werden solche Unfälle gerechtfertigt. Die Frage ist nur, wovon?
Zumindest mangelt es den jungen Damen nicht an Selbstbewusstsein. Der Zeiger steht vielmehr auf „Ich bin heiß und mach mich nackig“, als auf „Ich weiß um die Cellulite an meinem Hintern also mache ich das Röckchen um eine Reihe Rüschen länger.“ Vielleicht sollte ich neben meiner Kampagne noch erquickendes Studentenfutter verteilen (ich will ja nichts anbrennen lassen).

Für das Katerfrühstück am nächsten Tag gibt es drei Alternativen: Supermarkt, SPAR Markt oder Imbiss. Die kleinen SPAR Märkte gibt es hier an jeder Ecke. Die sind im Schnitt doppelt so teuer wie die großen Vier: Tesco, Dunnes, ALDI und LIDL. Generell gilt: Für Lebensmittel muss weit tiefer in die Tasche gegriffen werden als im Discounter-Wunderland Deutschland. Doppelt bis dreifach so tief (ob das der Geldbeutel beschaffenheitstechnisch hergibt?). Positiver Lerneffekt: Die Wertschätzung für Essen und Trinken steigt automatisch. Negativer Nebeneffekt: Man muss an anderer Stelle sparen. Was somit zum ziemlichen Haupteffekt wird.
Wer ein begeisterter „Alles Liebe“-, „Dschungelblüten“- oder „Feng-Shui“-Teeliebhaber ist, wird in Irland teefrei leben, auf Schwarztee umsteigen oder die radikale Wende zum Kaffee vollziehen müssen. Schwarztee pur oder mit einem Schuss Milch heißt hier Tee trinken.
Mehr Spielraum hat man dann schon beim Bezahlen. Entweder entscheidet man sich für den herkömmlichen Weg mit der Kassiererin oder man zieht seinen Kram selbst über den Scanner. Anfangs war ich nicht unskeptisch, ob diese moderne, technologische Erfindung meine gewählten Supersonderangebotsschnäppchen („Nimm drei, zahle zwei“ oder „Drei für drei Euro“) nicht übersehen und das Restgeld auch in den Behälter purzelen würde. Aber ja, es funktioniert. Sogar am Sonntag. Eine tolle Erfindung ist das übrigens: geöffnete Läden und Supermärkte am Ruhetag. Es lässt den Menschen tatsächlich innerlich ruhen. Ich reihe mich weder in die Warteschlangen am Sonnabend ein, noch suche ich verzweifelt eine Tanke tagsdrauf. Das Angebot weniger planen und mehr spontan sein zu dürfen, ist sympathisch.
Mehr Plan erfordert die Busfahrt: habe ich nicht das exakte Kleingeld für meine 1,90 € City-Fahrt, erhalte ich einen Papierstreifen als „Quasi-Restgeld-Gutschein.“ Wo dieser zwielichtige Streifen eingelöst werden kann, will ich gar nicht erst herausfinden. Ich glaube nämlich fest, dass mich die Busfahrt an diesen ominösen Ort mehr kosten als mir der Besitz des Wechselgeldes einbringen würde.
Meine Rätsels Lösung: ich fahre Rad. Praktisch, aber gefährlich. Was zum einen an meiner Fahrweise, zum anderen an dem Linksverkehr liegt. Bin ich nicht sicher, ob ich mich auf der richtigen Straßenseite befinde, wechsle ich auf den Gehweg. Will heißen: das ist mein Hauptfortbewegungspfad. Die tröstende Nachricht: die anderen Fahrrad fahrenden Verkehrsteilnehmer scheinen sich ebenfalls etwaiger Gefahren bewusst zu sein: Kaum einer ist ohne quitschgelber, Leuchtstreifen durchfluteter Warnweste, Helm und funkelnden Reflektoren unterwegs.
Hingewiesen sei auch auf die „Look left / Look right“ Verweise an jeder Straßenkreuzung. Wer lesen kann, ist hier besonders im Vorteil.

Was bringt das Studium?
International geht es zu. Junge Menschen aus über 100 Nationen studieren hier oder wurden auf diese Mission geschickt. Wie behalte ich da den Überblick? Ich bediene mich den gängigen Klischees. Garantieren zu 90% Treffsicherheit in punkto Mensch-Land-Zuordnung. Lässt sich der Fall nicht auf Anhieb lösen, hilft immer ein Blick auf den Gruppengefährten. Die Zusammenrottungspraxis entlarvt alle pädagogischen Appelle und theoretischen Konstrukte: Anstatt sich zu mischeln, fühlt sich die Mehrheit den nationalen Genossen am nächsten. Das mag an der gemeinsamen Sprache liegen, ich glaube aber viel mehr an kulturelle Ähnlichkeit. Die Parole „Wir sind alle Europäer“ klingt prima, vor allem im Wahlkampf, im Alltag sind wir aber ziemlich national. Hier müssen wir das „anders-ticken und -tun“ der europäischen Freunde bewältigen.
Dabei stechen drei Gruppen im Besonderen heraus: die Chinesen, die Franzosen und die Amerikaner (ja, ich bin mir meiner mangelnden Sorgfalt bewusst: ich ändere meine „Wir sind alle Europäer-These“ in „Wir sind alle eine Welt“; klingt aber dämlich. Nur bedingt besser: „Wir sind alle eine Familie“)
Zurück zu den Chinesen: Diese habe ich noch nie aus Versehen mit einem „Fremden“ spazieren sehen. Obwohl ihre Zahl überwältigend groß ist, fallen sie zuallererst durch ihre Unauffälligkeit auf. Unscheinbar sitzen sie in den Vorlesungen, schreiben jedes Wort robotergleich mit, fragen nicht, kommentieren nicht, verziehen keine Miene und machen keinen Lärm. Sport wollen sie in Alltagsklamotten betreiben und unterwegs sind sie nur im Schwarm. Ohne Begleitung sein, heißt vielleicht so viel wie „ich spreche nicht nur chinesisch“ (da das allerdings eine waghalsige Unterstellung ist, werde ich bis zum nächsten Bericht einen Experten zu Rate gezogen haben).
Die Franzosen sind eine Klasse für sich. Ihre große Mehrheit fordert meine besondere Toleranz: sie benimmt sich wie die elitäre Bohème, die nach alt-aristokratischer Manier zu fein und dufte für den pöbelhaften Rest ist. Sich selbst zu adligen, ist ja auch am schönsten. Ohne Unterlass wird das französische „Savoir Vivre“ gepriesen und ersehnt. Soll heißen: die gute französische Küche. Gerade weil diese so unentbehrlich ist, werden Roquefort, Saint Agur, Pastetchen, Tarts und Macarons nicht selten von Maman ins Päckchen gepackt und auf den Weg gebracht. Ein jeder ist im Lande, um sein Englisch zu „impruven“ (was bei 99 Prozent auch bitter nötig ist), wozu mit gleichgesinnten Franzosen verkehrt (die den bis dato erkämpften Wortschatz eher ruinieren als polieren) und Dvds auf französisch angeschaut werden. Aber will ich nicht verschweigen, dass die Untertitel stets englische sind.
Als letzte Gruppe sind die Amerikaner zu nennen. Bei ihnen hat mich kein grausames Michael-Moore-Vorurteil im Stich gelassen: Die Mädchen sind nicht gerade frei von Aufregung und Leidenschaft, besitzen eine kritische Urteilskraft (alles außer das Wetter ist pretty, gorgeous und amazing), sie finden Autofahren für um die Ecke zu kommen prima, Fox News objektiv und die meisten BMI sind nicht auf einen „kräftigen Knochenbau“, sondern auf Ronald McDonald zu schieben. Die Jungs sind überraschenderweise entspannter und ausgeglichener. Woran das wohl liegen mag?
Was haben diese Beobachtungen mit mir angestellt? Bin ich verständnisvoller und geduldiger geworden? Ja, gegenüber mir und Deutschland. Bin ich zum Menschen-Abstempler geworden? Ja, mit einer europäischen Weltoffenheit (alles doppelt abgedeckt und niemanden vergessen) für die Überraschungskandidaten, die unkonventionell „andersnational“ sind.

Neuartig sind auch die Anforderungen im Studium in Form von Essays und Assignments. Deren Raffinesse besteht im Journalismusstudium aus zwei Merkmalen: sie sind in regelmäßigen Abständen und effizienter Kürze während des Semesters abzuliefern. Hier nehmen die Dozenten das Psychologen-Ratgeber-Mantra „Work-Life-Balance“ ernst und tun sich keine 20-seitigen Manifeste an. Auf zwei bis fünf Seiten muss ich meine Gedanken bündeln und mich auf die wesentlichen Inhalte beschränken (also so komprimiert wie ich es für diesen Bericht tue).
Obwohl ich dazu angehalten bin, meine Dozenten mit „Barry“, „John“ und „Ryan“ zu betiteln, gehen wir –wie man vermuten könnte- nicht zusammen in die Kneipe noch stehe ich manchmal vorne und übernehme das Ruder. Die Nachnamen-Nenn-Variante wäre ehrlicher: nein, wir sind keine Freunde und wir sitzen nicht am gleichen Hebel.

Will man noch mehr Schmusekurs erleben, ist ein Weg zur so genannten „Student’s Union“ der richtige. Hier wird einem geholfen. Hier wird jeder unter Garantie bespaßt. Die Jungs, die hier arbeiten, sind immer feucht fröhlich und munter. Und das zum Nulltarif. Tagsüber wird Kicker, Fußball, Tischtennis gespielt (für die Mädchen gibt’s Yoga, Tanzen, Turnen) und nachts geht es regelmäßig zum Party machen. Von den Jungs werden Tages- und Wochenendausflüge organisiert und zu jeder Jahreszeit gibt es das passende Event („Winterwonderland zu Weihnachten“, „Blind Date“ zum Valentinstag, Fresher’s Party zum Semesterbeginn…); nur dass hier die Jahreszeiten im Wochenrhythmus wechseln. Das Interesse ist groß, die Veranstaltungen sind gut besucht. Gemeinsames alkoholbefeuertes Extrem-Feiern ist ja auch eine ganz schöne Form von Gemeinsamkeitsherstellung.

Sehnt man sich nach „Mit sich ganz allein sein-Zeit“, ist es wenig ratsam in ein Studentenwohnheim zu ziehen – so wie ich. Generell, empfiehlt es sich ab einem gewissen Alter wohl weniger in einer solchen Behausung zu wohnen. Aussagekräftige Kriterien für diesen Zeitpunkt sind das Liebhaben von Privatheit und ein gewisser Hang zur Freiheit. Wer extrem sicherheitsbedürftig ist und Regelwerke liebt, befindet sich in den „Halls of Residence“ des Griffith College Dublin im Wohn-Mekka.

Der Heilige Schrein besteht aus zwei 2 Zimmern, Küche, Bad: eine Wohnküche und zwei Zimmer für jeweils 2 Personen. Ein geteiltes Wohnen und Schlafen bekommt man für knapp 500 € im Monat. Die Behausung nennt sich „Self-Catering Apartment”. Wer nun glaubt, dass hieße jeder bereitet sein täglich Brot in einer voll möblierten Wohnung selbständig zu, besitzt nicht den Verständnis-Horizont der Damen und Herren der Griffith Halls. Dieser lautet: Self-Catering mit bedingten Voraussetzungen. Eine Gabel, ein Messer, ein Löffel, eine Tasse, ein Teller befinden sich nicht von Anfang an im Apartment. Ich verwende bewusst die Einzahl. Für ein Exemplar von jedem Utensil löhnte ich insgesamt 10 €. Wahrscheinlich wollten die Verantwortlichen nur die Phantasie der „Zugereisten“ anregen: Einmal Pizza bestellt, zack wäre ein Pappkarton-Teller da gewesen. Bei Starbucks hätte man den Plastiklöffel mitnehmen, der Frappuccino-Becher hätte sich mehrmals wiederverwenden lassen können und Messer und Gabel gibt es ja beim Fish-and-Chips Imbiss bei der To-Go Bestellung dazu.
Die nächste Überraschung: Bettbezug und Bettwäsche erwarten einen nicht (ist das nicht sogar in jeder schlechteren Jugendherberge der Fall?). Aber auch hier wird gegen Bares Abhilfe geschafft: für 20 € darf man nachts ohne Schüttelfrost und Hygienesorgen in den Schlaf sinken.
Bin ich etwa der Auffassung, dass diese Utensilien selbstverständlich im „Self-Catering-Apartment“ „all inclusive“ sein sollten? Mitnichten. Bei 20kg Fluggepäck sollte man dem Bedarf des täglichen Lebens Vorrang einräumen. Hätte ich das gewusst, wären auch zwei Schlüpfer zugunsten 3 Blatt Klopapier zu Hause geblieben. Die dritte fehlende Überraschung.



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George Orwell’s 1984 Visionen werden hier perfekt umgesetzt. Big Brother is watching you. Ob beim Betreten oder Verlassen des Apartments oder des Colleges, auf eines ist Verlass: alleine ist man nie. Ob die Wohnung frei von weiteren Augenpaaren ist? Das Badezimmer? Für eine Garantieerklärung würde ich mir viel Geld zahlen lassen. Ein Blick gen Himmel, gen die Aufzugsdecke, gen die Decken in den Fluren lassen nie vergessen in bester Gesellschaft zu sein.
So entstehen wunderbare Profile eines jeden Schäfchens: Wer, wann, wie kommt und geht. Alleine oder zu zweit. Wankend oder nüchtern.

Aber Vorsicht! Nach 22.30 Uhr sollte man nicht-hauszugehörige Begleitung zur Tür weisen und sich selbst auch nicht in einem fremden Apartment aufhalten. Unter 16 Jährige sind gar nicht zugelassen: Wer also ein Geschwisterchen in zartem Alter hat, muss dies wohl vor den Toren warten lassen. Wer einem Freund vom europäischen Festland gastfreundlich Quartier anbieten möchte, sollte zweimal nachdenken: 100€ Strafgebühr sind dann schneller weg, als man verdienen kann. Die gute Nachricht: Ratenzahlung wird gestattet. Man will ja nicht völlig unkulant sein. Was spricht denn auch gegen harte Sanktionen? Irland steckt in der Krise, ist tief verschuldet. Ist es da unwahrscheinlich, dass auch die „Halls of Residence“ in den Boomjahren wild mit Immobilien spekuliert haben und nun bis zum Hals in der Kreide stehen? Ein vielversprechender Weg aus den roten Zahlen zu kommen, wird da nicht ohne Ehrgeiz beschritten. Ist ja auch verlockend: ein riesiger Pool an Schäfchen weidet hier, bei dem man zweifeln darf, ob ein jedes das 25-seitige Regelbuch studiert hat.

Die Entscheidung für die Sicherheit sei also gut überlegt. Entschieden ist nämlich entschieden. 40 Wochen (ein akademisches Jahr) gebucht, genießt man es in voller Blüte. Kündigungsfristen gibt es nicht. Ist dann doch zu unsicher diese in den Vertrag einzubauen (ob das legal ist? Ein Studium des irischen Mietrechts werde ich gegebenenfalls noch absolvieren).
Wer nun einwendet, eine Lösung gibt es immer, hat Recht: Niemand wird hier gefangen gehalten (zumindest nicht mehr: die ersten 40 Jahre nach Gründung der Anlage im Jahr 1813, dienten die Gemäuer als Gefängnis; architektonisch, lässt sich der Fußballplatz finden, der nicht mehr an diese Vergangenheit erinnert). Jeder ist frei zu gehen: hätte sich der gute Mann in „Secret Millionaire“ für mich entschieden, hätte ich die 20€-Leih-Bettwäsche nicht mehr abgegeben.

Extrem fasziniert war Heinrich Böll von dem Irland der Improvisation. Er schrieb, dass in den Pubs manchmal gar nichts passierte, dass er manchmal nur saß und staunte wie schnell die Zeit herum gehe, weil nichts geschehe. „Die Zeit an sich kann hier zum Erlebnis werden, befreit vom zerrenden Tempo unseres Zeitgeists.“ Er beschrieb das irische „Zeitverhältnis“ als „Improvisation“ im Gegensatz zur zivilisierten deutschen Planung. Die Gegenwart hätte hier mehr Gewicht als die Zukunft. Deshalb sei mehr Menschlichkeit zu finden.
Nun, mittlerweile hat auch in Irland die „Alles-To-Go-Mentalität“ Einzug gehalten, Pünktlichkeit wird geschätzt und jedes „Heute“ hat auch ein bisschen was vom „Morgen.“

Wovon ich vielmehr fasziniert bin, ist das Wenige, was am Ende des Monats im Geldbeutel übrig bleibt. Für eine Handvoll Lebensqualität in Dublin, kramt man auch noch einmal in der linken Hosentasche, in der verzweifelten Gewissheit die Notgroschen dort versteckt zu haben.

Zuletzt starte ich dann doch noch eine Werbeaktion: Ein Hoch darauf, dass wir nicht nur mehr für wenig Geld in Deutschland bekommen, sondern auch auf unsere Mediziner und Apotheken. Wer mir nicht glaubt, mache den Test: bitte auf die Insel fliegen und zum Arzt gehen. Danach gleich den Abstecher in die Apotheke wagen: Es gibt kein stundenlanges Fachgespräch über das Für und Wider von Paracetamol. Es gibt keine Apotheker in weißen Kitteln mit diesem Kennerblick über die randlosen Apothekerbrillen hinweg und es gibt auch keine Apothekenumschau kostenlos zum Mitnehmen.